09. November 2021
Inklusiv gelebte Schule
Der letzter Tag in Reykjavik (Island Exkursion Tag 5)
Nach unserem letzten Frühstück im Sunna Guesthouse bringt uns der Bus an den östlichen Stadtrand von Reykjavik, wo der Besuch der Salskóli – einer Grundschule von Klasse 1 bis 10 – unsere Island-Exkursion abschließen soll. Das Schulleitungsteam um Hafsteinn Karlsson und Hrefna Björk Karlsdottir führt uns in drei Gruppen durch das Schulhaus.
Auf zwei Etagen lernen die Schüler*innen in sogenannten Häusern, die jeweils Klassenräume für zwei Jahrgänge bieten. Die Kinder eines Jahrgangs lernen in zwei bis drei Gruppen zwischen 20 und 25 Personen, wobei die Klassenlehrkräfte eng kooperieren. Nach fünf bis sechs Wochen werden die Gruppen neu gemischt, sodass neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit entstehen können. Zu jedem Lernhaus gehört mindestens ein Raum, der zur individuellen Betreuung von Schüler*innen mit besonderem Förderbedarf genutzt wird. Hier arbeiten Sonderpädagog*innen mit ausgewählten Kindern und Jugendlichen. Wer zur Förderung kommt, hängt dabei nicht allein vom diagnostizierten Bedarf ab. Laut Aussage der Lehrkräfte bitten verschiedene Schüler*innen häufig um eine Lerngelegenheit in den Extraräumen oder begleiten ihre Freund*innen, die von den Pädagog*innen dahin eingeladen wurden. Außerdem arbeiten die Lehrkräfte der Schule mit Übersichten, die die aktuellen individuellen Lernbedürfnisse der Kinder farblich erfassen und so eine einfache und schnelle Kommunikation über eventuelle Unterstützungsbedarfe der Lernenden ermöglichen.
Wir sehen Unterrichtsausschnitte in verschiedenen Klassen und nehmen das Miteinander von Lernenden und Lehrenden als sehr entspannt wahr. Heute ist Pyjama-Tag: Sowohl die Schüler*innen als auch einige Lehrkräfte sitzen in Schlafanzügen in den Zimmern. In einigen Klassen werden anlässlich des heutigen Süßigkeiten-Tages Chips und Gummibärchen gegessen und Filme geschaut. In anderen Gruppen wird gearbeitet – häufig an Ipads, von denen jede*r Schüler*in ein eigenes Gerät am Platz hat. Im Gegensatz zu einigen neu gebauten Schulen, die wir in den vergangenen Tagen besucht haben, wird hier in einem Schulhaus gelernt, das bereits auf eine zwanzigjährige Geschichte zurückblickt. Trotzdem lässt die materielle Ausstattung der Schule kaum Wünsche offen. Eine Lehrerin betreut die sehr gut bestückte Mediathek. Verschiedene und sehr moderne technische Geräte bereichern den pädagogischen Alltag. Bestellt wird eigentlich alles, was vorgeschlagen wird. Wenn den Pädagog*innen die Handhabung der Hard- oder Software noch nicht ausreichend bekannt ist, werden die Schüler*innen als Expert*innen im Umgang mit neuen Medien herangezogen. Und auch die Lernenden werden in ihren Wünschen zur Gestaltung des Schulhauses aktiv einbezogen. So wurde beispielsweise eine alte Abstellkammer in ein Tonstudio verwandelt, das nun für Aufnahmen genutzt werden kann. Die Räume wirken freundlich und individuell, auch wenn die Einrichtung nicht neu ist. Stuhlbeine stecken in aufgeschnittenen Tennisbällen, teilweise werden anderswo ausrangierte Möbel wieder nutzbar gemacht. Finanzielle Ressourcen werden sehr gezielt zur Beschaffung von pädagogischem Material genutzt. Wir sehen mit dieser Schule ein gutes Beispiel dafür, dass Innovation und Inklusion nicht zwangsläufig an eine hohe finanzielle Ausstattung gebunden sind.
Vielmehr trägt die strukturelle und kulturelle Ausrichtung der Schule zur Schaffung von vielfältigen und differenzierten Lerngelegenheiten bei. Drei Kolleginnen stellen uns vor, was getan wird, damit jede*r den individuellen Stärken entsprechend am Schulalltag teilnehmen kann. Neben der Sprachförderung für Kinder und Jugendliche, deren Erstsprache nicht Isländisch ist, arbeiten Spezialist*innen für den Umgang mit Behinderungen, die in Verbindung mit dem Autismus-Spektrum und der allgemeinen kindlichen Entwicklung stehen, intensiv in multiprofessionellen Teams zusammen, um die Gemeinschaft und gegenseitige Wertschätzung unter allen an Schule Beteiligten zu fördern. Die Lehrkräfte betonen, dass sowohl das Gefühl der Zugehörigkeit als auch das Erkennen und Einbringen individueller Stärken dazu führen, dass Schüler*innen sich beim Lernen wohlfühlen und einander in ihrer Verschiedenheit anerkennen.
Wie jede Schule sieht sich auch die Salskóli mit der Situation konfrontiert, dass nicht alle ausreichend von den curricular verankerten Lernangeboten angesprochen werden. Für die Lernenden, die potentiell oder faktisch von Schulversagen bedroht sind, wurden deswegen Strukturen etabliert, um schwierige Situationen gemeinsam bewältigen und den Weg ins Leben trotz Schulangst, motivationalen Defiziten oder anderen Hürden weiterhin schulisch zu gestalten. Neben dem Programm SPOT ON, für das jedes Jahr einige wenige Schüler*innen ausgewählt werden, deren Lernmotivation durch Exkursionen zu besonderen Orten und die Auseinandersetzung mit über das schulische Curriculum hinausgehenden Inhalten wiederentdeckt werden kann, hält die Schule einen Raum vor, der die Bezeichnung „maker space“ trägt. Hier erfahren Kinder, denen ein Lernen im Klassenunterricht momentan schwerfällt, in handwerklicher Arbeit eine individuelle Begleitung durch einen erfahrenen Kollegen. In einzelnen Lernzeiten bearbeiten die Schüler*innen eigene Projekte, stellen Modell-Fahrzeuge, Möbel oder Textilien her und schaffen sich so außerunterrichtliche Erfolgserlebnisse, die ihren Selbstwert stärken und die spätere Weiterarbeit im Unterricht ermöglichen sollen. In vielen Fällen entstehen hier auch Freundschaften, da die kurze Auszeit von den kognitiven Anforderungen des Unterrichts zur Entspannung beiträgt. Jenseits dieser Angebote werden auch individuelle Lösungen gefunden, um wirklich allen Anwesenden gerecht zu werden. Ein jüngerer Schüler, der eine große Abneigung gegen das schulische Lernen gezeigt hatte, konnte über seine Motivation den Beruf des Kochs zu ergreifen wieder zur Teilnahme am Unterricht motiviert werden. An zwei Tagen in der Woche darf er nun mit in der Schulküche arbeiten.
Wie an allen Schulen, die wir bisher besucht haben, werden die Pädagog*innen von der Schulleitung direkt eingestellt. Neben den fachlichen Kompetenzen wird insbesondere darauf wertgelegt, welche Einstellung zu Lernen und Gemeinschaft mitgebracht wird. Die Salskóli lebt Werte wie Mut, Offenheit und Vertrauen. Jede*r soll in den individuellen Stärken gesehen werden, Fehler machen dürfen und persönliche Interessen einbringen. Partizipation, Demokratie, Kooperation und Kommunikation stellen zentrale Prinzipien der Zusammenarbeit dar und haben uns eine Schule besuchen lassen, die uns hoffnungsvoll und bestärkt zurücklässt.
Die Umsetzung schulischer Inklusion hängt ein Stück weit - aber nicht vordergründig - davon ab, wie eine Institution finanziell, materiell und personell aufgestellt ist. Deutlich mehr ins Gewicht fallen jedoch die pädagogischen Überzeugungen der Pädagog*innen, deren Initiative und Mut zur Umsetzung von Kulturen und Strukturen, die von Außenstehenden auch einmal als anarchistisch oder utopisch bezeichnet werden. Die Salskóli hält das aus und hat uns gezeigt, wie ein inklusiver Schulweg aussehen kann.
Nach dem Mittagessen genießen wir zwei Stunden Freizeit in Reykjavik. Als am späten Nachmittag alle Souvenirs besorgt und die bunten Gassen der Altstadt ein letztes Mal durchstreift sind, nehmen wir Abschied von Islands Hauptstadt und machen uns auf den Weg nach Keflavik, wo am nächsten Tag unser Flugzeug zurück nach Berlin starten soll. Beim gemeinsamen Abendessen tragen wir unsere Eindrücke vom Tag und der Woche zusammen. Alle sind sich einig, dass die Teilnahme an dieser Exkursion ein großes Privileg ist und wir unseren Organisatoren Nico und Robert mehr als dankbar für die tolle Erfahrung sind. Wir können uns nach einer Woche voller Einblicke zwar kein abschließendes Urteil über den Stand der schulischen Inklusion in Island erlauben, aber das war auch nicht das Ziel der Reise. Vieles scheint hier gut zu laufen, besser, als die meisten von uns es aus Sachsen kennen. Wir nehmen zahlreiche Ideen für die Praxis und Gedanken zum Weitergrübeln mit. Für uns steht fest: Inklusion ist möglich, auch unter schwierigen Rahmenbedingungen. Sie beginnt in den Köpfen der Pädagog*innen, muss aber auch über die Schule hinaus gedacht werden. Und vor allem braucht ihre Umsetzung Teamarbeit, gemeinsame Visionen und ständigen Austausch. Diese Gruppe hat eine Woche lang intensiv diskutiert. Genau dieser professionelle Austausch ist es, der uns bestärkt und voller kleiner und großer Ideen für Veränderung in unseren Alltag zurückkehren lässt.
Vielen Dank an euch alle, es war wunderbar!!!
Ein großer Dank für die finanzielle Unterstützung, ohne die diese Reise nicht möglich gewesen wäre, geht außerdem an:
- die GEW Sachsen,
- das Bildungswerk der GEW,
- die deutsch-israelische Gesellschaft, sowie
- Horbach.